Lieber Herr Ramspeck: Seit der Zug-Attacke in Salez diskutieren wir wieder, wie viel Sicherheitspersonal unsere Gesellschaft braucht. Die Tatsache, dass einzelne Attentate und einzelne Durchgeknallte ausreichen, uns grosses Unbehagen zu bereiten, bestürzt mich. Ich muss mich fragen: Wo ist unser Vertrauen in uns selbst? Die meisten Menschen sind doch gut. Warum halten wir nicht daran fest? Was hat Sie das Leben gelehrt? Macht es Sinn, sich präventiv auf die faulen Eier zu konzentrieren?
Liebe Joëlle
Wenn ich an das vergangene Jahrhundert denke, leben wir – wir in Europa – in einer friedlichen Welt. Wir glauben überwunden zu haben, was in zwei grossen Kriegen 65 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Wir sind der verwöhnte Kontinent geworden. Ich habe als Kind noch dumpf den Kanonendonner in Süddeutschland gehört. Dann ist uns aber sogar die Furcht vor einem atomaren Armageddon abhanden gekommen. Jetzt reagieren wir fassungslos auf die Nachricht, dass mit dem säkularen Waffenstillstand in Europa die Gewalt nicht aus der Welt geschafft ist. Von den Massenschlächtern befreit, sind wir auf Einzeltäter nicht vorbereitet. Auf Verrückte und Verblendete, gegen die uns keine vernünftigen Massnahmen helfen. Es sei denn, wir verwandeln uns in einen Hochsicherheitstrakt, in dem wir selber Gefangene sind. «Die meisten Menschen sind doch gut», sagst du. Es gefällt mir, dass du diesen einfachen Satz schreibst. Auch wenn die meisten Menschen nicht alle Menschen sind, sind sie doch die, mit denen Widerstand gegen das Böse, das uns von aussen und von innen bedroht, zu leisten ist. Indem wir unbeirrt unser tägliches Leben leben und das Böse keine Macht über uns gewinnen lassen.